Dienstag, 29. November 2011

Rabenliebe oder Mutterliebe

Rabenliebe statt Mutterliebe

Zwischen Kinderreimen, Lyrik und Nachrichtenmeldungen über Kindesmisshandlungen eröffnet Peter Wawerzinek in Rabenliebe dem Leser die Welt seiner Kindheit und Jugend.

Peter Wawerzinek traf die Person, die den größten Einfluss auf sein Leben hatte, erst im Alter von beinahe 50 Jahren. Seine Mutter. Nie wirklich kennengelernt, schwebt der Gedanke an sie doch stets wie eine dunkle Wolke über dem Autor. Als Kleinkind von seiner Mutter, die in den Westen floh, in der Wohnung in Rostock zurückgelassen, verbringt Wawerzinek seine ersten Jahre in verschieden Kinderheimen in der DDR. Er bleibt lange Zeit ein stummes Kind, dessen einzige Gesprächspartner die Vögel sind, deren Gesang er nachahmt. Nach zwei gescheiterten Adoptionsversuchen landet er im Alter von ungefähr 10 Jahren doch schließlich bei einem Lehrerpaar, das ihn aufgrund seiner guten Zensuren aufnimmt. Doch die Kühle des »Adoptionsvaters« und die irrationale Strenge der »Adoptionsmutter«, wie Wawerzinek sie stets bezeichnet, machen ihm den Aufenthalt mehr als schwer und geben ihm nicht die notwendige Wärme um sich geborgen zu fühlen.

»Rückblickend sage ich: Allemal besser, ich wäre im Heim geblieben und hätte als Vollwaise Tag für Tag tapferer mit mir und dem Leben zurechtkommen dürfen.«

Er fühlt sich von seinen Zieheltern, die nie Fragen zu seiner Herkunft beantworteten, betrogen, als er im Alter von 14 Jahren auf seine ihm vorenthaltene kleine Schwester trifft. Diese verbringt allerdings ihre Zeit nicht allzu lange in unmittelbarer Nähe des Bruders.
Eingezogen zur NVA, beherrscht dann der Fluchtgedanke den jungen Grenzsoldaten Wawerzinek. Nach einem glimpflich gescheiterten Fluchtversuch bleibt die Frage, ob er jemals den entscheidenden Schritt hin zur Mutter schafft, deren Bedeutung für ihn mit jedem Jahr zu wachsen scheint.

Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt. Der erste thematisiert die Phase seiner Kinder- und Jugendzeit, die von seinem Muttersehnen bestimmt ist, und der zweite Teil behandelt seine Muttersuche und das eher kühle Zusammentreffen.
Peter Wawerzinek berichtet ausführlich von seinen Eindrücken und Erlebnissen, die dem Leser eine genaue Vorstellung davon vermitteln. Das Buch wird von einem sehr bildhaften Stil dominiert, der die Figuren teilweise karikiert, die Schwester jedoch gesichtslos und nebulös wirken lässt. Man erkennt die gestörte Beziehung zu seiner eigenen Vergangenheit und seinen Blutsverwandten.

Wawerzinek legt in seinem Werk jedoch eine große Detailverliebtheit an den Tag. Er beschreibt zu viel, raubt somit im besten Fall den Freiraum für die Fantasie der Leser und hinterlässt im schlimmsten Fall einen langatmigen, über die Maßen nostalgischen Eindruck.
So zieht sich gerade der zweite Teil in die Länge. Allein auf das große Treffen ausgerichtet, lenkt der Autor stets ab, flüchtet sich in Erinnerungen, verharrt an einer Stelle, beschäftigt sich mit der Besonderheit eines einzelnen Wortes und weicht aus. Er wirkt zerstreut, er wirkt nervös und baut so bei den Lesern einen immensen Druck auf. Man wartet direkt auf das (den Leser) erlösende Treffen mit der Mutter, welches jedoch einen eher schalen Nachgeschmack hinterlässt, der durch den mehr als interessanten ersten Teil umso bitterer ist.
Dort lockern gerade die kleineren Passagen, wie Regeln zur Adoption, kleine niedliche Kinderreime oder schockierende Nachrichten über grausame Eltern-Kindbeziehungen, seine ausführlichen Erzählungen und seine Mutterversessenheit auf. Doch je mehr die Anzahl der Auflockerungen im Verlauf des Buches abnimmt, desto länger sind die Ausführungen des »Mutterverstoßenen, der an Muttermangel leidet«, die ihren traurigen Höhepunkt in dem Abschnitt über Betten findet, der beinahe drei Seiten umfasst.

»Der gesamte Katalog zeitlich begrenzter, hochmoderner Konstruktionen. zum Klappen, zum Ausziehen, zum Drehen, Kippen, Aushebeln. Funktionale, schnörkellose Liegen, die allesamt meinen geringen Ansprüchen genügen.«

Rabenliebe ist eine Lektüre, der eine ordentliche Kürzung gut getan hätte. Da der Autor häufig mit vielen Worten nichts sagt, wird er leider dem interessanten Thema und seinem eigentlichen Können nicht gerecht. Es hätte ein eindrucksvolles Zeugnis einer Welt sein können, die den Glücklichen unter uns völlig fremd ist und somit einen Einblick in ein faszinierendes und trauriges Leben erlaubt hätte.


Nachzulesen unter: http://www.litlog.de/rabenliebe-statt-mutterliebe/

1 Kommentar:

  1. Ich finde, das ist eine ganz tolle Rezension. Ich habe das Buch zwar noch nicht gelesen, kann mir aber bildlich vorstellen wie es sein könnte.
    Ganz toll gemacht!
    Katrin H.

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