Rabenliebe statt
Mutterliebe
Zwischen Kinderreimen, Lyrik und Nachrichtenmeldungen über
Kindesmisshandlungen eröffnet Peter Wawerzinek in Rabenliebe dem Leser die Welt seiner Kindheit und Jugend.
Peter Wawerzinek traf die Person, die den größten Einfluss
auf sein Leben hatte, erst im Alter von beinahe 50 Jahren. Seine Mutter. Nie
wirklich kennengelernt, schwebt der Gedanke an sie doch stets wie eine dunkle
Wolke über dem Autor. Als Kleinkind von seiner Mutter, die in den Westen floh,
in der Wohnung in Rostock zurückgelassen, verbringt Wawerzinek seine ersten
Jahre in verschieden Kinderheimen in der DDR. Er bleibt lange Zeit ein stummes
Kind, dessen einzige Gesprächspartner die Vögel sind, deren Gesang er nachahmt.
Nach zwei gescheiterten Adoptionsversuchen landet er im Alter von ungefähr 10
Jahren doch schließlich bei einem Lehrerpaar, das ihn aufgrund seiner guten
Zensuren aufnimmt. Doch die Kühle des »Adoptionsvaters«
und die irrationale Strenge der »Adoptionsmutter«, wie Wawerzinek sie stets
bezeichnet, machen ihm den Aufenthalt mehr als schwer und geben ihm nicht die
notwendige Wärme um sich geborgen zu fühlen.
»Rückblickend sage ich: Allemal besser, ich wäre im
Heim geblieben und hätte als Vollwaise Tag für Tag tapferer mit mir und dem
Leben zurechtkommen dürfen.«
Er fühlt sich von seinen Zieheltern, die nie Fragen zu
seiner Herkunft beantworteten, betrogen, als er im Alter von 14 Jahren auf
seine ihm vorenthaltene kleine Schwester trifft. Diese verbringt allerdings
ihre Zeit nicht allzu lange in unmittelbarer Nähe des Bruders.
Eingezogen zur NVA, beherrscht dann der Fluchtgedanke den
jungen Grenzsoldaten Wawerzinek. Nach einem glimpflich gescheiterten
Fluchtversuch bleibt die Frage, ob er jemals den entscheidenden Schritt hin zur
Mutter schafft, deren Bedeutung für ihn mit jedem Jahr zu wachsen scheint.
Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt. Der erste
thematisiert die Phase seiner Kinder- und Jugendzeit, die von seinem
Muttersehnen bestimmt ist, und der zweite Teil behandelt seine Muttersuche und
das eher kühle Zusammentreffen.
Peter Wawerzinek berichtet ausführlich von seinen Eindrücken
und Erlebnissen, die dem Leser eine genaue Vorstellung davon vermitteln. Das
Buch wird von einem sehr bildhaften Stil dominiert, der die Figuren teilweise
karikiert, die Schwester jedoch gesichtslos und nebulös wirken lässt. Man
erkennt die gestörte Beziehung zu seiner eigenen Vergangenheit und seinen
Blutsverwandten.
Wawerzinek legt in seinem Werk jedoch eine große
Detailverliebtheit an den Tag. Er beschreibt zu viel, raubt somit im besten
Fall den Freiraum für die Fantasie der Leser und hinterlässt im schlimmsten
Fall einen langatmigen, über die Maßen nostalgischen Eindruck.
So zieht sich gerade der zweite Teil in die Länge. Allein
auf das große Treffen ausgerichtet, lenkt der Autor stets ab, flüchtet sich in
Erinnerungen, verharrt an einer Stelle, beschäftigt sich mit der Besonderheit
eines einzelnen Wortes und weicht aus. Er wirkt zerstreut, er wirkt nervös und
baut so bei den Lesern einen immensen Druck auf. Man wartet direkt auf das (den
Leser) erlösende Treffen mit der Mutter, welches jedoch einen eher schalen
Nachgeschmack hinterlässt, der durch den mehr als interessanten ersten Teil
umso bitterer ist.
Dort lockern gerade die kleineren Passagen, wie Regeln zur
Adoption, kleine niedliche Kinderreime oder schockierende Nachrichten über
grausame Eltern-Kindbeziehungen, seine ausführlichen Erzählungen und seine
Mutterversessenheit auf. Doch je mehr die Anzahl der Auflockerungen im Verlauf
des Buches abnimmt, desto länger sind die Ausführungen des »Mutterverstoßenen, der an
Muttermangel leidet«,
die ihren traurigen Höhepunkt in dem Abschnitt über Betten findet, der beinahe
drei Seiten umfasst.
»Der gesamte Katalog zeitlich begrenzter,
hochmoderner Konstruktionen. zum Klappen, zum Ausziehen, zum Drehen, Kippen,
Aushebeln. Funktionale, schnörkellose Liegen, die allesamt meinen geringen
Ansprüchen genügen.«
Rabenliebe ist
eine Lektüre, der eine ordentliche Kürzung gut getan hätte. Da der Autor häufig
mit vielen Worten nichts sagt, wird er leider dem interessanten Thema und
seinem eigentlichen Können nicht gerecht. Es hätte ein eindrucksvolles Zeugnis
einer Welt sein können, die den Glücklichen unter uns völlig fremd ist und
somit einen Einblick in ein faszinierendes und trauriges Leben erlaubt hätte.
Nachzulesen unter: http://www.litlog.de/rabenliebe-statt-mutterliebe/
Ich finde, das ist eine ganz tolle Rezension. Ich habe das Buch zwar noch nicht gelesen, kann mir aber bildlich vorstellen wie es sein könnte.
AntwortenLöschenGanz toll gemacht!
Katrin H.